Beim 2. Oberurseler Werte- und Wirtschaftskongress gelang etwas, was man sonst nur selten findet: Der Funke sprang über und bescherte auch dem Relaunch des erfolgreichen Kongresses eine einzigartige Atmosphäre und einen Tag voller Informationen, Erkenntnisse und Einsichten.
Über 200 Anmeldungen sprachen für sich und so brachte Matthias Gräßle, Hauptgeschäftsführer der IHK Frankfurt, das Engagement des fokus O. und das Bedürfnis der Teilnehmer nach Werten und Leitlinien auf den Punkt: „Offensichtlich wurde hier ein Nerv getroffen.“
Jürgen Schultheis, kompetenter und anregender Moderator des Tages, führte durch das Kongressprogramm und entlockte den Referenten spannende und informative Statements.
Bürgermeister Brum erklärte während der Eröffnung gut gelaunt, man habe ihm bereits mehrfach zu dem (vom fokus O. organisierten) Kongress gratuliert, es sei nicht unangenehm, „sich im Lichte eines solchen Kongresses zu sonnen“. Städtische Entwicklung rekrutiere sich längst nicht mehr nur von oben allein, er sei beeindruckt von den Impulsen des ersten Kongresses auf Werte und Wertebildung. Michael Reuter, Vorsitzender des fokus O., und einer der Initiatoren des Kongresses, gab den Ball zurück. Das Leitbild der Stadt „Leben. Qualität. Zukunft“ lasse viel Spielraum, sich den Problemen der Innenstadt zu widmen und eine Willkommenskultur für Migranten sowie eine wertschätzende Unternehmenskultur zu fördern. „Bei allem was man tut das Ende bedenken“ – dies sei Nachhaltigkeit.
Der wohl bekannteste und charismatischste Referent des Kongresses, Benediktinerpater Anselm Grün, mahnte anwesende und abwesende Führungskräfte, keine „Bewunderungszwerge“ zu sammeln. Nur wer in sich keine Werte habe, brauche immer wieder anbiedernde Zustimmung und behindere so eine positive Entwicklung in Unternehmen. Auch der Perfektionsanspruch, den viele in sich trügen, tue mehr Schlechtes als Gutes und mache Menschen kaputt, ebenso wie das Sich-ständig-beweisen-müssen. Hingegen spende das Sich-hingeben und das Schöpfen aus spirituellen Quellen Kraft und Freude. Der Cellerar der Abtei Münsterschwarzach und Autor zahlreicher Bücher empfahl, der Arbeit Rhythmen und Rituale zu geben: „Rituale öffnen und schließen Türen. Und so soll es auch sein, denn ständiger Durchzug tut keinem gut.“ Sein vielleicht wichtigster Rat: „Man sollte selber leben, anstatt gelebt zu werden, ansonsten droht Bitternis.“
Pragmatisch, authentisch und zielsicher traf danach Albrecht Hornbach, Vorstandsvorsitzender der Hornbach Holding AG, den Nagel auf den Kopf. „Bei uns sind gigantische Managergehälter undenkbar, wir arbeiten partnerschaftlich mit dem Betriebsrat zusammen, haben Zeitwertkonten, Belegschaftsaktien und beschäftigen gerne auch Mitarbeiter über 50“, so der Hornbach-Chef. Die Hornbachgruppe, die er als noch immer mittelständisch begreift, habe als Familienunternehmen in sechster Generation unkomplizierte Entscheidungswege und sei gegen green und social washing. Das Credo sei immer „Mehr Sein als Schein“ gewesen, allerdings überdenke man dies aktuell. Die Stiftung „Menschen in Not“, den Bau einer Schule auf Haiti sowie die Unterstützung der Region Rhein-Neckar habe man nie an die große Glocke gehängt, zertifizierte, nachwachsende Produkte sowie Lieferanten-Audits seien Standard. Markt und Moral, Unternehmens- und Gemeinwohl sind laut Albrecht Hornbach keine Gegensätze – und der Erfolg scheint ihm Recht zu geben.
Das Prinzip Reduktion vertrat Dieter Brandes, lange Jahre Geschäftsführer bei Aldi-Nord und heute Inhaber eines Instituts für Einfachheit. „Das ganze Tüdelüt weglassen“, eingeschränktes Warenangebot statt unübersichtlicher Einkaufserlebniswelten, beste Qualität zum niedrigsten Preis, Reduktion statt Komplexität sowie dezentrale Organisation – dies mache den Erfolg bei Aldi aus. Nicht „Weniger ist mehr“, sondern „Gerade genug ist mehr“ sei sein Wahlspruch und er hält es mit Einstein, der auf die Frage, wie er arbeite, gesagt haben solle: „Ich taste mich voran.“
Von einer Wandlung vom hochbezahlten Banker zum Oberurseler Heilpraktiker berichtete sehr lebendig und in großer Offenheit Jürgen Röthig. Nach einer steilen Karriere in großen Bankhäusern und an der Börse „hatte ich mit 40 Jahren meine beste Zeit in diesem Geschäft hinter mir, meine Werte und mein Wunsch, Menschen zu entwickeln, waren überholt.“ Er überwand den Wunsch nach Status und Dienstwagen, absolvierte eine Heilpraktiker-Ausbildung und hat es bis jetzt nicht bereut. Sein Tipp für die Wertevermittlung an Kinder: Vorleben.
Dass in Deutschland Vielfalt als Chance und Erfolgsfaktor gesehen und vorgelebt wird, fordert Isinay Kemmler, die das IKU.NET Netzwerk Interkultureller Unternehmerinnen in Frankfurt gründete. Die Unternehmensberaterin berichtete von Studien, nach denen Unternehmen mit hohem Frauenanteil und kultureller Vielfalt erfolgreicher am Markt agierten als andere und warb dafür, dass Unternehmen eine Selbstverpflichtung in Sachen Interkulturalität unterschreiben sollten.
Die Foren am Nachmittag hatten werteorientierte Unternehmensführung und lokale Anstrengungen zugunsten der Energiewende als Themen. In Forum 1 wurde sehr konkret diskutiert, wie Werteorientierung in Unternehmen gelebt werden kann. Hubertus Spieler, Ausbilder und Dozent für verschiedene Bildungsträger, betonte, dass der Grundsatz des Führens durch Vorbild durch nichts zu ersetzen sei, was die Oberurseler Optikermeisterin Heike Weck bestätigte: Die Liebe zum Beruf und eine motivierte Einstellung motivierten auch die Mitarbeiter. Dr. Michael Gerhard, Geschäftsführer der Kliniken des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes, verwies darauf, was beim Wirtschaften ohne Werte geschehe – meist nehme dies ein schlechtes Ende, denn ökonomischer Erfolg setze Werte voraus.
Im Forum zur Energiewende stellte die Geoinformatikerin Prof. Dr. Martina Klärle die These auf, eine 100-Prozent-Versorgung mit erneuerbaren Energien in Oberursel und Umgebung sei möglich. Schon die Deckung von 20 Prozent der Oberurseler Dachflächen mit Solarzellen würde 80 Prozent des privaten Stromverbrauchs erbringen. Hauptherausforderungen seien der Energiebedarf der Industrie und der Bedarf an Wärmeenergie in Deutschland. Durch ein dichteres, durchlässigeres und intelligenteres Energienetz sieht Klärle die Möglichkeit, Engpässe auszugleichen. Auch wenn die anderen Experten des Forums in Details widersprachen, der Ausbau des Netzes sowie Kooperation ist für alle der Schlüssel zu mehr Effizienz, auch für den Geschäftsführer der Stadtwerke Oberursel, Jürgen Funke.
Gespannt waren die Teilnehmer auf die Impulsreferate zur wert(e)vollen Stadtentwicklung. Prof. Dr. Achim Behrens, Lehrstuhlinhaber für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, zeigte auf, dass schon der Prophet Jeremia um Nachhaltigkeit wusste. „Suchet der Stadt Bestes! Denn wenn es ihr gut geht, geht es auch euch gut.“ Der Theologe dachte über den Bildungsstandort Oberursel nach, vor allem auch über die Stätten religiöser Bildung, und regte mehr Zusammenarbeit mit anderen Bildungsträgern wie der Volkshochschule an. Einen Werkzeugkasten zur Sicherung der kommunalen Baukultur stellte Dr. Frank Pflüger vor. Baukultur stärke die Identifikation der Bürger mit einer Stadt, mache Bauen nachhaltig und spare letztlich Geld und Zeit, sofern man sich baukulturellem Handeln als einer Gemeinschaftsaufgabe stelle. Im Fokus von Heiner Bernhard, Oberbürgermeister der Stadt Weinheim/Bergstraße, die ähnlich groß wie Oberursel ist, stand hingegen eine Anhebung der Kaufkraftbindung. Er führte aus, wie es Weinheim gelang, durch aktives City-Management, umfangreiche bauliche Maßnahmen, die Installation eines Parkleitsystems sowie Einzelhandelskonzepte die Kaufkraftbindung zu stärken. In der anschließenden Podiumsdiskussion postulierte Bürgermeister Brum: „Wir müssen den Mut haben, in der Stadt zu leben“, meinte aber auch selbstkritisch, in Oberursel könne „niemand seinen Einkaufszettel abarbeiten“. Ideen, dieses Manko abzubauen, sind jedoch im Entstehen.
Den letzten und krönenden Höhepunkt des Abends bot das Kabarettprogramm „Die neuen Leiden der jungen Werte“ von Duo Camillo. Gleich das erste Lied stimmte die Teilnehmer zugleich nachdenklich und beschwingt mit seinem Text: „Mannomann, warum hängt am Leben kein Beipackzettel dran?“ Wehmütige Rückschau darüber, früher einmal die Welt verändern zu wollen, übertriebener Ehrgeiz von Eltern und Kindern, genetisch oder anerzogen – so viele Themen, die die Welt nicht nur in Oberursel bewegen, wurden von Fabian Voigt und Martin Schultheiß angesungen, persifliert und genüsslich durch den Kakao gezogen. Das interaktive Lied am Schluss, in das spontan vom Publikum geäußerte Begriffe eingebaut wurden, provozierte stehende Ovationen.
Aus der gesamten Rhein-Main-Region angereist, zeigten sich die Teilnehmer inspiriert und begeistert von dem Kongress. „Hoffentlich gibt es den Werte- und Wirtschaftskongress nicht zum letzten Mal“, war immer wieder zu hören. Anke Berger-Schmidt, Michael Reuter, Werner Ronimi und Manuela Wehrle hörten dies gern, denn sie haben bereits viele Ideen und Anregungen für einen dritten Werte- und Wirtschaftskongress.