2017
4. Oberurseler Werte- und Wirtschaftskongress:
Von extraterrestrisch bis lokal
„Wirtschaften ist kein Selbstzweck!“ Diese Worte hätten bereits vom großen Reformator Martin Luther kommen können, der beim 4. Oberurseler Werte- und Wirtschaftskongress immer wieder Pate stand, sie kamen aber von Marlene Haas, der 27-jährigen Vizepräsidentin der IHK Frankfurt und Schirmherrin der Veranstaltung. Insgesamt 170 Personen aus vielen Branchen erlebten eine anregende, anspornende, am Ende anrührende Tagung – und nahmen beruflich wie privat eine Menge mit.
In ihrer Begrüßung stimmten Marlene Haas, der 1. Vorsitzende des fokus O. Michael Reuter und Oberursels Bürgermeister Hans-Georg Brum nachdenkliche Töne an. Haas ging auf die Agenda 2030 ein, die erstmals eine Brücke schlage und wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Gerechtigkeit sowie Nachhaltigkeit für alle fordere. Reuter nahm dies auf und wies darauf hin, dass die Globalisierung vor der Provinz nicht Halt macht, doch kleine Schritte von kleinen und mittleren Unternehmen in der Gesamtheit viel bewegen können. Bürgermeister Brum, der angesichts der Flüchtlingswelle und der Wahl in Frankreich eine sich aufspaltende Gesellschaft sieht, trat für mehr gesellschaftlichen Grundkonsens ein – durch Werte und die richtigen Leitfiguren.
Von sehr weit oben, aber klar und klarsichtig hat Dr. Thomas Reiter, Keynote-Speaker des Kongresses, Langzeit-Astronaut der ESA und Weltraum-Spaziergänger, unseren Planeten Erde gesehen. In seinem gespannt erwarteten Vortrag zeigte er nicht nur persönliche Bilder vom Leben in Schwerelosigkeit auf einer Raumstation, sondern auch von der Erde mit ihrer dünnen, verletzlichen Atmosphäre, von Gewittern und Hurrikans und von gewaltigen Brandrodungen im Urwald. Diese fragile Schönheit zu zeigen und mehr Menschen zu animieren, in MINT-Berufe zu gehen und Verantwortung zu übernehmen, ist sein Anliegen. Er gab nicht nur einen Einblick in die Aufgaben der Raumfahrt, sondern auch konkrete Beispiele für Forschungsaufträge im Weltraum aus Medizin und Biologie.
Luther und Platon
Wer danach einen harten Schnitt beim Referat über Martin Luthers wirtschaftsethische Impulse erwartete, sah sich im Referat von Prof. Werner Klän von der Lutherisch Theologischen Hochschule angenehm enttäuscht. Schon der Reformator mahnte Kirchenleute und alle Christen an, wirtschaftliche und soziale Bezüge in ihr Denken einzubeziehen, Herren wie Untergebene sollten sich in „Angemessenheit“ und „gerechtem Wirtschaften“ üben. Luther habe sich nicht gegen Eigentum ausgesprochen, so Klän, doch angeprangert, wer in grenzenlosem Besitzstreben dem „Mammon“ diene, habe eine zweite Gottheit und lebe somit nicht gottgefällig.
Ein Denker und Mahner unserer Zeit ist Hubertus Spieler, Buchautor und Organisationsentwickler. Er rief den Zuhörern die platonischen Tugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung ins Gedächtnis und legte als Blaupause die christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung darüber. Auch der Zusammenhang von Werten, Würde und Ethos wurde beleuchtet.
Arbeitgeber der Region
Wie es einem mittelständischen Unternehmen gelingt, sich ohne großen Etat als „Great Place to work“ zu positionieren, führte Stefanie Wagner-Suske von Pascoe Naturmedizin in Gießen aus. Durch einen geführten Strategieprozess, der alle Mitarbeiter mit einbezieht, veränderte Kommunikationsstrukturen und gezieltes Gesundheitsmanagement gingen innerhalb von zwei Jahren die Krankheitstage der Mitarbeiter um 50 Prozent zurück und das Unternehmen erhielt eine begehrte Auszeichnung.
Im Bundesunternehmen GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) mit Sitz in Eschborn werden Werteorientierung und (Wirtschafts-)Interessen nicht als Gegensatz gehandelt, so Vorstandssprecherin Tanja Gönner. Gemeinsam getroffene Vereinbarungen dienten als Basis der Zusammenarbeit mit Partnerländern, die im Einzelnen sehr unterschiedlich ausfallen könne, jedoch immer dem Prinzip „global denken – lokal handeln“ folge. Ein Arbeitgeber wie die GIZ darf auch postulieren: „Die einen leisten sich Mindeststandards, die anderen bezahlen dafür.“
Die parallelen Foren
Zwei parallel laufende Foren am Nachmittag fokussierten sich auf „Vielfalt und Integration zwischen Wohlfahrt und Wirtschaftsfaktor“ zum einen und „Umweltschutz als Motor der Wirtschaft“ zum anderen. In Forum 1 zeigte die Organisationsentwicklerin Dr. Alexandra von Winning erfolgreiche Beispiele für Diversity Management auf. Ihr folgte Dr. Uta George vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt, die die Aufgaben der Behörde schilderte und ganz konkrete Beispiele gab, so Missverständnisse bei der Mülltrennung oder die Sinnvermittlung von Elternabenden in der Schule gegenüber ausländischen Mitbürgern. Sitgi Özdemir, Karosserie- und Lackierermeister, berichtete von praktizierter Integration: Er hat zwei junge Flüchtlinge als Azubi und Praktikant im Betrieb und macht gute Erfahrungen.
In Forum 2, der Neo-Ökologie gewidmet, legte Dr. Michael Kopatz Möglichkeiten der Shared Economy dar und sprach sich für eine „Buy local“-Kampagne in jeder Stadt aus. Thilo Baar, Spezialist für Umweltstandards, stellte das Programm Ökoprofit vor, und Gerald Weil, Geschäftsführer eines Autohauses in Friedrichsdorf, führte aus, wie er dieses Programm in seinem Betrieb konsequent umsetzt und dabei eine Menge Kosten spart: „Es war wie die Entwicklung vom Wählscheiben-Telefon zum Smartphone in zehn Jahren!“
Die Gäste hatten die Qual der Wahl zwischen den Foren und nutzten die Möglichkeit des Wechsels rege. Viele hätten gerne beide Foren komplett miterlebt, sahen aber auch die enge Zeitschiene, die sie jedoch nicht davon abhielt, Nachfragen an die Referenten zu stellen.
Podiumsdiskussion
Das abschließende Podium, besetzt mit Unternehmer und Autor Walter Kohl, Ex-Basketball-Bundesligist Marius Nolte und Unternehmensberater Holger Heinze, diskutierte über den Umgang mit Krisen. Walter Kohl gelang es nach einer persönlichen und beruflichen Krise, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und die Krise als Wendepunkt und Rohstoff für etwas Neues zu betrachten. Ihm hilft ein Satz von Willi Brandt: „Jede Zeit hat ihre eigenen Antworten.“
Holger Heinze erzählte von Stigmatisierungen nach der Pleite mit einem Online-Shop, für den er zuvor nur Zustimmung geerntet hatte und wie er Zeit und Geld verlor, bevor er sich wieder aufrichtete. Marius Nolte befolgt die Rezeptur der Sportler: Da geht es immer nur nach vorne, rückwärts bedauern ist nichts für sie. Was im Sport akzeptiert wird, forderten die Podiumsteilnehmer auch für berufliches, unternehmerisches und persönliches Handeln: eine „Kultur des Scheiterns“. Alle auf dem Podium waren sich einig, dass Krisen zum Leben gehören und Menschen stärken können.
Am Schluss lachen die Engel
Nach einem prallen, informativen und erkenntnisreichen Kongresstag, durch den die SWR-Moderatorin Patricia Küll Referenten und Besucher professionell und eloquent geführt hatte, durften sich alle zurücklehnen und nur noch genießen. Miriam Küllmer-Vogt sang und erzählte, begleitet von Peter Krausch, in ihrem reformatorischen Kammer-Mucical „Wenn Engel lachen“ die Irrungen und Wirrungen der Liebesgeschichte um Katharina von Bora und Martin Luther. „Herzzerreißend, humorvoll, einfach wunderbar, ein krönender Abschluss“, meinte eine auch um 21 Uhr noch gar nicht müde Besucherin.